Thursday, January 18, 2018

Menschen wollen keinen Krieg … … oder wie Kriege gemacht werden

von Dieter Sprock

«Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden.»1
Albert Einstein
Die Geschichte der Menschheit ist durchzogen von Krieg und Gewalt. Die Liste der Kriege seit dem Altertum ist schier endlos, und das Ausmass an Zerstörung und menschlichem Leid, das durch Krieg verursacht wurde und weiterhin wird, unvorstellbar. Allein die beiden Weltkriege im letzten Jahrhundert haben gegen 150 Millionen Tote und Verwundete gefordert, darunter viele zivile Opfer: Frauen, Kinder und alte Menschen. Und die Zahl der Menschen, die seit dem Zweiten Weltkrieg ihr Leben durch Krieg und andere von Menschen verübte Gewalt­exzesse verloren haben, dürfte die 100 Millionen erreichen. – Die Schweiz hat gerade einmal 8 Millionen Einwohner. – Vor dieser Schreckensbilanz können wir die Augen nicht verschliessen. 

Siegmund Freuds Irrtum

«Warum Krieg?» Die Suche nach der Ursache für Krieg und Gewalt dürfte so alt sein wie der Krieg selbst; sie ist Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Frieden. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Kulturgeschichte der Menschheit und mündet, wo immer Menschen nach der Ursache für Krieg suchen, in die Frage nach der sittlichen Natur des Menschen: Ist der «Naturstand» des Menschen tatsächlich der Zustand des Krieges? Oder bildeten nicht die «gegenseitige Hilfe» und ein Gefühl für «Gerechtigkeit und Sittlichkeit» schon bei unseren frühen Vorfahren die Grundlage ihres Zusammenlebens?
Im letzten Jahrhundert wurde die Diskussion über die Frage: «Warum Krieg?» stark von der Annahme eines Aggressionstriebs beeinflusst, den Siegmund Freud (1856–1939) 1920 unter dem Eindruck des massenhaften Abschlachtens im Ersten Weltkrieg erfunden hat.
Als Albert Einstein (1879–1955) Siegmund Freud auf Anregung des Völkerbundes 1932 in einem Brief fragt, ob es einen Weg gebe, «die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien», antwortet Freud, der von der «Lust an der Aggression und Destruktion» als einer im Menschen triebhaft verankerten Konstante überzeugt war: Es habe keine Aussicht, «die aggressiven Neigungen des Menschen» abschaffen zu wollen. Interessenkonflikte unter den Menschen würden «prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt» entschieden. Ausserdem befriedige «die Tötung des Feindes eine triebhafte Neigung». Seine Antwort mündet in dem denkwürdigen Satz: «Warum empören wir uns so sehr gegen den Krieg, Sie und ich und so viele andere, warum nehmen wir ihn nicht hin wie eine andere der vielen peinlichen Notlagen des Lebens? Er scheint doch naturgemäss, biologisch wohl begründet, praktisch kaum vermeidbar.»
Obwohl Freuds Konstruktion des Aggressionstriebes von Anfang an umstritten war und heute längst widerlegt ist, wirkt sie bis in unsere Gegenwart hinein. Sie hat sich im Denken und in der Sprache niedergeschlagen und lenkt die dringend notwendige Auseinandersetzung über die Frage von Krieg und Gewalt auf ein falsches Gleis. 

Gegenseitige Hilfe ist der Kampf ums Dasein

Freuds Annahme, der Krieg sei biologisch begründet, war ein fataler Irrtum. Weder der Krieg noch häusliche Formen von Gewalt entsprechen irgendeiner biologischen Notwendigkeit. Sie sind nicht in den Genen verankert. Das menschliche Leben wird nicht von Aggression bestimmt. Gegenseitige Hilfe ist der Kampf ums Dasein. Sie hat das Überleben des Menschen gesichert, denn nur in Gemeinschaft konnte er den Unbilden der Natur widerstehen und sich gegen seine natürlichen Feinde schützen.
Betrachtet man das Zusammenleben der Menschen unvoreingenommen, so sieht man, dass es vom Streben nach Beziehung und Zugehörigkeit bestimmt wird. Der Mensch will seine Sache gut machen und vertraut darauf, dass die anderen es ebenso wollen und ehrlich sind. Selbst heute, wo der krasseste Individualismus – «denke zuerst an dich selbst» – propagiert wird, könnte die Menschheit auch nicht ein Dutzend Jahre ohne gegenseitige Hilfe und ohne selbstlose Tätigkeit zum Wohl der Allgemeinheit existieren.
Bei allen Schwierigkeiten, die das Zusammenleben mit sich bringt, ich denke an Meinungsverschiedenheiten, Missverständnisse oder Streit, der manchmal auch in Gewalt ausartet, verläuft das Zusammenleben der Menschen im allgemeinen friedlich. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, sie sorgen sich um das Wohl ihrer Kinder, pflegen ihre Häuser und Gärten, lieben das gesellige Beisammensein, sind fröhlich und manchmal auch traurig, doch bei aller Verschiedenheit fällt es niemandem ein, seinen Tornister zu packen und in ein fremdes Land zu ziehen, um dort Menschen umzubringen, die ihm nichts getan haben und deren Sprache er nicht einmal versteht. Einstein hat Recht, wenn er schreibt: «Die Massen sind niemals kriegslüstern, solange sie nicht durch Propaganda vergiftet werden.»
Selbst in der Ausnahmesituation des Krieges stehen neben sadistischer Grausamkeit – die einer gesonderten Behandlung bedarf – gegenseitige Hilfe und Mitgefühl, und zwar nicht nur gegenüber den eigenen Kameraden, sondern auch gegenüber dem «Feind». Es gibt unzählige Beispiele, in denen Soldaten sogar unter Gefährdung des eigenen Lebens den Feind verschont oder daneben geschossen haben. Die Kriegsindustrie hat aus diesem Grund Killerspiele entwickelt, um die Tötungshemmung der Soldaten abzubauen und die Mord­rate zu erhöhen.
Bekannt sind auch Berichte von Kriegsheimkehrern, die schildern, wie die Soldaten in den Feuerpausen aus den Schützengräben gekrochen sind und mit ihrem «Feind» geraucht und Bilder von ihren Familien ausgetauscht haben.

Menschen werden in Kriege hineingelogen

Sieht man einmal von Stammesfehden unserer frühen Vorfahren ab, bei denen sich Rivalen um Jagdgründe und Nahrung persönlich gegenüberstanden, entsteht Krieg nicht aus Streit zwischen Menschen oder weil irgendein Trieb dazu drängt. Krieg, gemeint ist natürlich der Angriffskrieg, und auch der Terror sind eine Art institutionell geforderte Ausübung von Gewalt. Beide werden kaltblütig nach strategischen Überlegungen geplant: Waffen werden bereitgestellt, und der Munitionsnachschub wird gesichert. Im Krieg braucht es Köche für die Verpflegung und Sanitäter und Ärzte für die Verwundeten. Und für Krieg wie für Terror braucht es Feindbilder, die künstlich erzeugt werden müssen. Die Vorbereitungen nehmen oft Jahre in Anspruch. Dabei fällt der Kriegspropaganda die Aufgabe zu, Hass gegen den Feind zu erzeugen und den politisch gewollten Krieg als einen notwendigen und guten Krieg darzustellen.
Es ist inzwischen allgemein bekannt, dass Regierungen grosse international agierende PR-Unternehmen damit beauftragen, für ihre Kriegspläne zu werben, um für Unterstützung in der eigenen Bevölkerung und bei den Verbündeten zu sorgen.
Public-Relations-Fachleute, ausgestattet mit allen Erkenntnissen der Psychologie, der Kommunikationsforschung und anderer Sozialwissenschaften, schreiben das Drehbuch, mit dem die Menschen in den Krieg hineingelogen werden sollen, und die Medien – Hörfunk, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriftenverlage, das Internet und die Film­industrie – sorgen dafür, dass die «Werbung für Krieg und Tod»2 unter die Menschen kommt. Sie geben vor, womit sich die Menschen befassen und was sie denken sollen; das nennt man «Aufklärung» oder «Information». Unerwünschte Informationen werden verschwiegen oder vom «Wahrheitsministerium» zu feindlicher Propaganda oder neudeutsch «fake news» erklärt.
Die Medienberichterstattung wird weitgehend von einigen grossen Agenturen dominiert. «80 % aller Nachrichten in den Medien», schreiben Becker und Beham, «stützen sich auf lediglich eine einzige Quelle, und genau diese entpuppt sich bei weiteren Recherchen als eben die Pressestelle, die diese Meldung in Umlauf gebracht hat.» Sie sprechen von einer «Kolonisierung der Medien durch die PR-Industrie». Anfang der neunziger Jahre gab es in den USA mehr «PR-Praktiker» als Journalisten.
Ein Neffe Siegmund Freuds, Edward Bernays (1891–1995), der als Vater der Public Relations gilt, hat nicht nur dafür gesorgt, dass Freuds Theorien in den USA Verbreitung fanden, sondern mit seinem Buch «Propaganda» 1928 auch die Grundlage für modernes Kommunikationsmanagement gelegt.3 Es dient noch heute Werbefachleuten und Regierungen als Anleitung für die Manipulation der öffentlichen Meinung.
Bernays entwickelte seine Kampagnen zur Meinungsbeeinflussung aus den Theorien seines Onkels. Er war davon überzeugt, dass es möglich sei, die «Massen ohne deren Wissen zu kontrollieren und zu steuern», wenn man «den Mechanismus und die Motive des Gruppendenkens versteht».
«Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen» war für Bernays, «ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften». «Organisationen, die im verborgenen arbeiten», schreibt er, «lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentliche Regierung in unserem Land [gemeint sind die USA].
Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie gehört haben. Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken.» Doch das sei nicht überraschend, fährt er fort: «Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich.» (S.19)
Dass «eine dafür geborene Elite» die Gesellschaft lenkt, ist für Bernays selbstverständlich. Unverfroren preist er die «grandiosen Erfolge der Propaganda im Krieg» [gemeint ist der Erste Weltkrieg], welche den «Weitsichtigen» die Augen «für die Möglichkeiten von Manipulation der Massenmeinung in allen Bereichen des Lebens» geöffnet hätte. Im Krieg, so Bernays, hätten die amerikanische Regierung und diverse patriotische Vereinigungen «eine vollkommen neue Methode» zur Gewinnung öffentlicher Akzeptanz angewendet, indem sie sich der «Unterstützung der Schlüsselpersonen aller gesellschaftlichen Gruppen, von Menschen also, deren Wort für Hunderte, Tausende oder gar Hunderttausende Gewicht hatte», versichert haben. So hätten sie automatisch «die Unterstützung ganzer Burschenschaften, Religionsgemeinschaften, Wirtschaftsvereinigungen, patriotischen Vereinen, sozialen und regionalen Gruppen» gewonnen, «deren Mitglieder die Meinung ihrer Anführer und Sprecher automatisch übernommen» hätten.
Ausserdem hätten die Manipulatoren der öffentlichen Meinung «Massenreaktionen gegen die angeblichen Greueltaten, den Terror und die Tyrannei des Feindes» provoziert. (S. 33) So werden Kriege gemacht!
Die Kriegspropaganda knüpft daran an, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist und das Zusammenleben auf Treu und Glauben beruht. Sie missbraucht das menschliche Gefühl für Verantwortung und Gerechtigkeit, um den Krieg gegen die «Barbaren» nicht nur als gerecht, sondern als heilige Pflicht erscheinen zu lassen. Und sie setzt darauf, dass sich der ehrliche Bürger nicht einmal vorstellen kann, dass er derart manipuliert und betrogen wird. 

Es geht um die Kontrolle der Macht

Der Grund für Krieg liegt nicht in der Natur des Menschen. Menschen wollen keinen Krieg. Bei der Suche nach den Ursachen für Krieg gilt es, den Blick vermehrt auf die unkontrollierten Machtverhältnisse und -strukturen zu richten, welche Entscheidungen einzelner möglich machen, die nicht im Interesse der Allgemeinheit handeln. Bis heute ist es nicht gelungen, die Macht der Mächtigen, die im Hintergrund die Fäden ziehen, zu begrenzen. Die grossen politischen Fragen werden häufig von Instanzen entschieden, die sich keiner politischen Kontrolle unterziehen und so die Demokratie aushöhlen.
Viele der Mächtigen sind von Habgier getrieben und verfolgen ihre machtpolitischen Interessen, ohne sich um Recht und Gesetz oder das Wohl der Menschen zu kümmern. Sie halten sich weder an das Völkerrecht noch an die Charta der Vereinten Nationen, die mit ihrem allgemeinen Gewaltverbot jeden Angriffskrieg verbietet.
Unsere Zukunft wird in hohem Masse davon abhängen, ob und wieweit es gelingt, die «ordnungspolitischen Strukturen» (Arthur Rich)4 so zu verändern, dass der Machtmissbrauch verhindert oder zumindest eingeschränkt werden kann und auch die Mächtigen auf die Einhaltung von Recht und Gesetz verpflichtet werden können. Darauf müssten sich alle Anstrengungen richten.     •
1    Einstein, Albert; Freud, Siegmund. Warum Krieg? Ein Briefwechsel, Zürich 1972
2    Becker, Jörg und Beham, Mira. Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod, Baden-Baden 2006
3    Bernays, Edward. Propaganda, Berlin 2017, 8. Auflage
    Siehe auch: Barben, Judith. Spin doctors im Bundeshaus. Gefährdung der direkten Demokratie durch Manipulation und Propaganda, Baden 2009
4    vgl. «Über Arbeit, Wirtschaft, Macht und Wirtschaftsethik», in Zeit-Fragen Nr. 29/30 vom 21.11.2017 (https://www.zeit-fragen.ch/de/editions/2017/no-2930-27-novembre-2017/a-propos-du-travail-de-leconomie-du-pouvoir-et-de-lethique-dans-leconomie.html)