Saturday, November 18, 2017


"Türkei wird selbstständig": Syrien-Kooperation ebnet Weg für gemeinsame Geopolitik mit Russland

"Türkei wird selbstständig": Syrien-Kooperation ebnet Weg für gemeinsame Geopolitik mit Russland
"Die Türkei rückt immer mehr von ihrer prowestlichen Politik ab und wird zu einem selbstständigeren Akteur", erklärt der Geopolitik-Experte Wladimir Awatkow im Interview mit RT Deutsch und verweist aber auch auf Herausforderungen im russisch-türkischen Verhältnis. 
Wladimir Awatkow ist Dozent an der Diplomatischen Akademie des Außenministeriums der Russischen Föderation und Direktor des Zentrums für Orientalistik, Internationale Beziehungen und Public Diplomacy. RT Deutsch sprach mit dem hochrangigen russischen Politikwissenschaftler. 
Wie bedeutsam sind die russischen Beziehungen zur Türkei angesichts einer anhaltenden Blockadehaltung des Westens? Welche Rolle spielen Großprojekte wie Turkish Stream?
Die russisch-türkischen Beziehungen haben sich inzwischen im Bereich der Wirtschaft intensiv entwickelt. Umfangreiche Projekte wie Turkish Stream und der Bau des Kernkraftwerks Akkuyu bilden die Grundlage dieser Beziehungen. Wichtig ist jedoch auch, dass die Türkei immer mehr von ihrer prowestlichen Politik abrückt und zu einem selbstständigeren Akteur wird. Die Türkei hatte nie vor, Sanktionen gegen Russland einzuführen. Im Gegenteil: Sie erweiterte die Beziehungen zu Russland, auch wenn dies in erster Linie ihren eigenen natürlichen Interessen entsprach.
Wie groß sind die Chancen, dass die Türkei auch zu einem geopolitischen Partner Russlands wird?
Wichtig ist dieser Punkt in dem Kontext, dass die USA möglicherweise erwägen, Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen, weil diese das russische S-400 Langstrecken-Luftabwehrsystem erwerben möchte. In diesem Fall finden wir uns immer mehr auf einer Seite wieder. Man könnte und sollte die Türkei nun in den Einflussbereich Russlands mit einbeziehen. Die Situation ist reif dafür und die dafür benötigten Ressourcen sind vorhanden. Nun ist es notwendig, eine entsprechende Strategie dafür zu entwickeln.
Welche Rolle spielen die Astana-Friedensgespräche zu Syrien für die regionale Kooperation mit der Türkei?
Die Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei in der Arabischen Republik Syrien trägt ebenfalls dazu bei, dass sich die Beziehungen verbessern. Sie kann, einschließlich der Zusammenarbeit mit dem Iran, zu einem Strukturmodell für die Schaffung und Konfiguration von Sicherheit für die Region werden.
Die Türkei und Russland unterstützen in Syrien im Grunde einander gegenseitig bekriegende Seiten. Gibt es Herausforderungen hinsichtlich der Abwägung der gegenseitigen Herangehensweisen?
Russland und die Türkei haben unterschiedliche Interessen und das ist völlig normal. Diese Unterschiede zeigen sich auch in der jeweiligen Einstellung gegenüber den unterschiedlichen Parteien in Syrien. Leider ist es der Türkei und Russland bisher nicht gelungen, eine vollständig übereinstimmende Charakterisierung der Terrororganisationen zu erreichen, also in der Frage, welche Organisation als eine Terrororganisation gilt und welche nicht.
Wie bewerten beide Seiten die Lage im konkreten Fall der kurdischen YPG-Miliz?
Für die Türkei ist dieses Thema sehr wichtig, weil auf ihrem Territorium eine große kurdische Minderheit lebt. Die türkischen Grenzen zu Syrien und Irak sind einfach zu überqueren. Für die Türkei ist eine Unterstützung der YPG inakzeptabel. Genauso inakzeptabel ist für die Türkei die Unterstützung der Kurden durch die USA. Daher geht Ankara davon aus, dass Russland in Bezug auf die Kurdenfrage eine eher gemäßigte Position einnimmt oder sich wenigstens nicht in diese Angelegenheit einmischt. In der Frage, ob man die Kurden an den Verhandlungstisch holen sollte oder nicht, unterscheidet sich die russische Position sehr stark von der türkischen. Hier könnte und sollte aber ein Kompromiss gefunden werden. 
Die Türkei ist unter anderem aktiv im Kaukasus und in Zentralasien, also Regionen, die historisch sehr enge Beziehungen zu Russland pflegen. Unter dem Eindruck der Form annehmenden chinesischen Seidenstraße: Wie bewertet Russland diese Entwicklung?
Symbolbild: Ein Besucher posiert vor einer Wachsfigur des ehemaligen Al-Kaida Führers Ossama Bin Laden in Bukarest, Rumänien.
Die Türkei war die letzten 25 Jahre seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sehr aktiv, die so genannte Türkische Welt zu schaffen. Das ist ihr außenpolitisches Ideologem, das im Augenblick einen Widerspruch zu den Interessen Russlands darstellt und mit diesen überhaupt nicht übereinstimmt. Im Grunde genommen baut die Türkei parallel zu Russland an einem eigenen Integrationsprojekt, das die turksprachigen ehemaligen Sowjetrepubliken einschließt. Außerdem bezieht Ankara dabei auch noch Georgien mit ein, was einem großen türkischen Projekt der Einflussnahme und ebenso einer der alternativen Route zur russischen Seidenstraße gleichkommt. Leider ist das ein Bereich, in dem die russischen und die türkischen Positionen auseinandergehen.
Besteht auch in diesem Fall wie in Syrien die Möglichkeit, dass sich Moskau mit Ankara verständigt?
Das ist ein Bereich, den die Türkei und Russland in Zukunft diskutieren werden. Erst hatten wir die wirtschaftlichen Beziehungen. Dann einigten wir uns im Bereich der Sicherheitspolitik. Es ist nun Zeit, einen Dialog auf der Ebene der Geopolitik zu starten, damit sehr schwer wiegende und wichtige Probleme gelöst werden können, die mit dem Versuch der Türkei verbunden sind, Einfluss auf den turksprachigen Raum zu nehmen. Was den Einfluss auf die turksprachigen Völker der Russischen Föderation einschließt.