Wednesday, July 20, 2016

Willy Wimmer: Türkei-Destabilisierung nur ein weiteres Kettenglied - Sputnik

Die Türkei hat die größte Armee Europas, die zweitgrößte innerhalb der Nato nach den USA. Was bedeutet ein Militärputsch für die Nato-Mitgliedschaft? Und ist die Türkei damit noch ein Kandidat für die EU? Sputnik hat nachgefragt bei Willy Wimmer, ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium und Ex-Vizepräsident der OSZE.

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Putschversuch in der Türkei (104)
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Herr Wimmer, welche Rolle spielt oder spielte das Militär in der Türkei? Jetzt scheint es ja zu großen sogenannten Säuberungen zu kommen. 
Die türkischen Streitkräfte sind ja der größte Unternehmer in der Türkei. So hängt wirtschaftspolitisch unheimlich viel von dieser Position ab. Die Kräfte, die auf Seiten von Erdogan stehen, haben alles getan, um diese Sonderrolle des Militärs zu beseitigen, und haben dafür ja auch den Beifall des Westens gefunden. Aber dafür zahlen wir jetzt einen unglaublich hohen Preis, denn die Türkei wird einen Weg gehen, wie wir ihn 1991 in Algerien gesehen haben, wo letztendlich der Westen nach dem Sieg islamistischer Kräfte bei freien Wahlen anschließend Algerien schmählich verlassen hat.
Die Türkei ist Nato-Mitglied. Die Türkei ist ja tatsächlich die Nummer Zwei in der Nato nach den USA. Die größte Nato-Armee in Europa.  Was heißt das für das Bündnis, wenn in einem Nato-Mitgliedsland ein Militärputsch stattfindet? 
Die Türkei ist ja eh ein komplizierter Fall innerhalb der Nato. Der türkische Präsident beziehungsweise seine Familie hat ja eine große Nähe zum IS. Die Entwicklungen in Syrien sind maßgeblich von der Türkei und bestimmten Kräften im Land beeinflusst. Genauso wie von Israel. Israel hält Kabinettssitzungen auf den Golanhöhen ab und sagt, das ist jetzt endgültig unser. Und die Türkei verstärkt durch ihr Engagement in Syrien die kurdische Gefahr, was zu einer Spaltung der Türkei führen könnte. Daran hat sich die Nato mit einer schizophrenen Politik beteiligt. Da bin ich mal gespannt, wie die Nato aus diesem Dilemma wieder rauskommt.
Ist die Türkei für die USA in Bezug auf Syrien und den Nahen Osten unverzichtbar oder wird die USA als Nato-Hauptland aus dem Militärputsch Konsequenzen ziehen für ihr Verhältnis zur Türkei? 
Nein, dazu müssten die USA ja ihre eigene Politik im Nahen und Mittleren Osten ändern. Was sich in der Türkei abspielt, ist doch auch das Ergebnis der westlichen Politik. In der internationalen Presse ist doch schon vor Monaten spekuliert worden, dass die Vereinigten Staaten einem Putsch in der Türkei eher positiv gegenüberstehen würden. Wir haben es doch nicht mehr mit einer rationalen westlichen Politik zu tun, sondern mit dem misslungenen Stopfen von Löchern, die man selbst aufgemacht hat.
Erdogan scheint es mehr um Innenpolitik zu gehen, riskiert er doch sogar Verstimmungen mit den USA wegen der geforderten Auslieferung von Erdogans Erzfeind, dem Prediger Gülen. 
Wenn er die Wiedereinführung der Todesstrafe fordert, scheint ihm auch die EU-Mitgliedschaft egal zu sein. 
Das sind alles Fall-Out-Produkte einer verhängnisvollen westlichen Politik. Erdogan muss ja innenpolitisch gegen die zweite Hälfte seines eigenen Volkes angehen. Für die Bilder von türkischen Soldaten, die in unmenschlicher Weise eingepfercht nackt auf dem Boden kauern, muss jeder Staatschef irgendwann bezahlen. Das lässt sich kein Volk gefallen.
Und dann noch das kurdische Dauerproblem der türkischen Regierung. Ich war der Vorsitzende der ersten internationalen OSZE-Mission, die vor vielen Jahren in die Türkei entsandt worden ist. Ich kenn die Türkische Republik sehr gut. Ich habe die kurdischen Gebiete gesehen, wo 3000 Städte und Dörfer in der Auseinandersetzung mit der PKK in den Siebziger und Achtziger Jahren plattgemacht wurden. Millionen Menschen wurden vertrieben. Durch die türkischen Aktivitäten in Syrien wurden diese Probleme nur noch potenziert.
Die Bundeswehr nutzt eine Militärbasis in der Türkei. Dort kam es ja auch zu Festnahmen. Ist es dort noch sicher? 
Vor dem Hintergrund der völkerrechtlich eindeutigen Situation in Syrien, wo sich nur die Russische Föderation auf Bitten des gewählten syrischen Präsidenten befinden darf, gibt es für die Bundeswehr sowieso keine Legitimation, dort zu sein. Sie sollte abgezogen werden. Die Türken müssen erst einmal ihre Probleme klären. Und ich hoffe sehr, dass nun die innertürkischen Auseinandersetzungen nicht noch über die türkischen Staatsbürger, die in Deutschland leben, auf deutschem Staatsgebiet ausgetragen werden.
Die EU braucht ja die Türkei weiter in der Flüchtlingskrise. Oder geht es inzwischen auch ohne die Türkei? 
Die EU hat doch bereits zu Beginn der Flüchtlingskrise seit zwei Jahren gewusst, was sich in der Türkei ereignet und mit welchen Flüchtlingsströmen wir rechnen müssen. Das hat die Bundesregierung damals nicht gekümmert und das kümmert sie heute nicht.
Ist die Türkei also endgültig auf dem Weg zu einem autoritären Staat und weg von EU und Nato?
Wir leben ohnehin in einer immer gefährlicher werdenden Situation. Chaos in der Türkei, Ausnahmezustand in Frankreich, Großbritannien will die EU verlassen. Da kommt es auf die Entwicklung in der Türkei schon fast nicht mehr an. Es kommt zu einer Destabilisierung des uns bekannten Europas. Möglicherweise richtet sich das alles gegen jemanden ganz anderen. Moskau ist zu Recht besorgt darüber, dass um Russland herum ein Flächenbrand nach dem anderen organisiert wird. Die politische Entwicklung ist evident. Die Türkische Republik ist doch prädestiniert dafür, für ein Zündeln am Südrand der Nato zu sorgen und die ganze Region anzustecken. Da ist Erdogan auch nur ein Spielball unter mehreren.

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